Wirtschaft am Wendepunkt? Mehr Transformationstoleranz wagen!
Die Nachricht ließ aufhorchen: Im ersten Quartal dieses Jahres ist Chinas Treibhausgasausstoß erstmals gesunken – und das obwohl die Stromnachfrage weiter gestiegen und Chinas Wirtschaft wuchs. Dies könnte also tatsächlich jenen Kipppunkt markieren, ab dem beim weltweit größten Emittenten der CO2-Ausstoß endlich zu sinken beginnt.
Einen ähnlichen Wendepunkt hat die Wirtschaft in Deutschland und Europa möglicherweise bereits passiert. Dies zeigt eine Untersuchung der britischen Klima-Watchdog-Organisation „Influence Map“, die Geschäftsmodelle und Unternehmensziele der 200 größten Unternehmen in Europa analysiert hat. Demzufolge befand sich noch im Jahr 2019 das Geschäftsmodell von lediglich 3 Prozent dieser Großunternehmen im Einklang mit den Klimazielen des Pariser Abkommens.
Dies hat sich in nur wenigen Jahren dramatisch gewandelt. Laut der Analyse sind inzwischen 23% der großen europäischen Unternehmen „fully aligned“ mit dem Ziel der Klimaneutralität. Und eine Mehrheit von 52 Prozent ist bereits „fully or partially aligned“. Vielleicht noch bemerkenswerter ist, dass parallel die Zahl derjenigen Unternehmen, deren Geschäftsmodell vollständig inkompatibel mit den Klimazielen ist, erheblich zurückgegangen ist – von gut einem Drittel 2019 auf nur noch 13 Prozent 2024. Die vielbeschworene Transformation, sie vollzieht sich also offenbar bereits, und zwar genau jetzt.
So ermutigend das ist, so offenbart sich hierbei zugleich ein handfestes kommunikatives Problem: Denn die gängigen Erzählmuster über „die Wirtschaft“ und den Klimaschutz bilden die realen Entwicklungen offenbar nicht länger zutreffend ab. Sie stecken fest in Narrativen der Vergangenheit. So wurde beispielsweise in den jüngsten Wahlkämpfen auf EU- und nationaler Ebene Klimaschutz häufig als Zusatzbürde dargestellt, die allenfalls bei einer boomenden Wirtschaft zu bewältigen sei. Und die neue deutsche Wirtschaftsministerium blies in ihrem ersten Interview seit Amtsantritt in dieses Horn, als sie erklärte, Klimaschutz könne „nicht das einzige Ziel“ der Wirtschaftspolitik sein (so als wäre das jemals so gewesen).
Um es auf den Punkt zu bringen: Die wirtschafts- und klimapolitische Debatte ist übermäßig stark ausgerichtet auf jene immer kleine werdende Minderheit der Unternehmen, die die Neuausrichtung auf Klimaneutralität noch nicht angegangen sind. Alle an dieser Debatte Beteiligten sollten sich also fragen, inwieweit ihre Situationsbeschreibungen zu derlei Verzerrungen beitragen.
Dies gilt übrigens auch für Teile Klimaschutz-Community. Dass "mächtige fossile Lobbyinteressen" den Klimaschutz ausbremsen wollen, gehört beispielsweise für Teile dieser Community zu den beliebtesten Narrativen. Nun gibt es derlei Lobbyinteressen zweifellos. Doch das Narrativ vom übermächtigen fossilen Gegner stützt am Ende ungewollt das verzerrende Schwarz-Weiß-Narrativ, Klimaschutz schade der Wirtschaft.
Kipp- und Wendepunkte kündigen sich an, wenn sich Grautöne ins Schwarz-Weiß bisher geltender Deutungsmuster mischen. Wer den Wendepunkt nicht verpassen will, sollte hierfür den Blick schärfen – und anfangen vom Grau zu erzählen.
Mit besten Grüßen aus der Klimafakten-Redaktion,
Ihr Carel Carlowitz Mohn